„Die Aussichten für das Vereinigte Königreich sind leider ziemlich besorgniserregend.“
Professor McKinnon, die Verhandlungsgespräche zum Brexit haben Anfang März begonnen, nachdem beide Seiten, Großbritannien und die EU, ihre Ausgangspositionen erklärt haben. Wie sehen Sie den Stand der Entwicklungen derzeit?
Aus meiner Sicht ist die EU nur dann bereit dazu, Großbritannien einen einfachen und freien Zugang zum Binnenmarkt zu gewähren, wenn es sich bereit erklärt, die Angleichung bei Dingen wie Regulierung, staatliche Beihilfen, Arbeitnehmerrechte und Umweltvorschriften weiter aufrechtzuerhalten. Doch die britische Regierung hat erklärt, dass sie dazu nicht bereit ist und will von diesen Vorschriften abweichen. Deshalb ist es sehr unwahrscheinlich, dass die EU bereit sein wird, dem Vereinigten Königreich umfangreiche Handelskonzessionen zu gewähren. Großbritannien befindet sich jetzt in der Übergangsphase: Wir haben die EU am 31.1.2020 verlassen und es gibt eine Übergangsfrist bis Ende Dezember. Die Hoffnung ist, dass in dieser Zeit ein Freihandelsabkommen geben wird, welches den freien Zugang aufrechterhält. Doch der Zeitrahmen ist sehr begrenzt. Es wird damit gerechnet, dass die Verhandlungen dazu bis Oktober abgeschlossen sein müssten, damit das Abkommen in die 27 offiziellen EU-Sprachen übersetzt und auch von den Mitgliedsstaaten ratifiziert werden kann. Denn im Gegensatz zu dem früheren Austrittsabkommen, das Ende vergangenen Jahres vereinbart wurde, handelt es sich nicht nur um eine Vereinbarung mit der Kommission und dem Europäischen Parlament. Dieses Handelsabkommen wird von den einzelnen Mitgliedsstaaten ratifiziert werden müssen, was etwas länger dauern wird. Ich denke, alle Handelsexperten sind sich also einig, dass der Zeitplan viel zu knapp bemessen ist und dass das Beste, was man sich bis Ende dieses Jahres erhoffen kann, eine sehr einfache Version eines Handelsabkommens vielleicht nur in einigen wenigen Sektoren und mit vielen offenen Fragen ist. Das schlimmste Szenario ist natürlich, dass es gar kein Abkommen gibt. Die britische Regierung hat erklärt, dass sie die Verhandlungen abbrechen wird, wenn sie der Meinung ist, dass bis Juni dieses Jahres nicht genügend Fortschritte erzielt werden. Dann würde Großbritannien bis Ende 2020 im Wesentlichen auf einen ungeordneten Brexit zusteuern.
Welches sind aus Ihrer Sicht die größten Herausforderungen?
Großbritannien ist seit 47 Jahren Mitglied der EU und in dieser Zeit ist die britische Wirtschaft sehr eng mit Kontinentaleuropa verknüpft worden, insbesondere in logistischen Sachverhalten. Die Lieferketten, die Großbritannien mit anderen EU-Ländern verbinden, erfordern einen reibungslosen Verkehr an den Grenzen. Nun hat Großbritannien beschlossen, dass es den Binnenmarkt verlassen will: Es will die Zollunion verlassen und auch bei den Standards und Vorschriften auseinandergehen. Als Konsequenz müssen die Zollkontrollen für den EU-Verkehr nach Großbritannien in den Häfen und Flughäfen durchgeführt werden. Das wird die Lieferketten stark beeinträchtigen und damit die Wirtschaft Großbritanniens und im übrigen Europa. Und es bedeutet, dass sich die Fahrzeuge an den internationalen Grenzen, insbesondere im Hafen von Dover, verspäten werden. Der gesamte Verkehr zwischen Dover und Calais ist betroffen: Die Fahrzeuge müssen gestoppt und kontrolliert werden. Diese Unterbrechung der Lieferkette wird meiner Meinung nach negative Auswirkungen auf die britische Wirtschaft haben. Es werden wahrscheinlich Zölle erhoben, während es gleichzeitig kein Freihandelsabkommen gibt – und so werden viele britische Exporte auf den europäischen Markt noch weniger wettbewerbsfähig.
Wie stark wird sich das auf UK auswirken?
Die EU ist bei weitem der größte Handelspartner Großbritanniens, was die Exporte betrifft. Der nächstgrößte wären die Vereinigten Staaten mit 19 Prozent der britischen Exportverkäufe in 2018. Wenn es also Zölle gäbe und damit Einschränkungen für diesen Handel, zusätzlich zu den von mir erwähnten Restriktionen in der Lieferkette, dann würde sich all das negativ auf die britische Wirtschaft auswirken. Die meisten Studien sagen bis zu 7 Prozent Schrumpfung in den kommenden zehn bis 15 Jahren voraus. Die Aussichten für das Vereinigte Königreich sind also leider ziemlich besorgniserregend.
Was bedeutet das für Handelsunternehmen, Speditionen und Zollagenten?
Man schätzt, dass es im Vereinigten Königreich mehr als 200.000 Unternehmen gibt, viele davon kleine und mittlere Unternehmen, die mit anderen EU-Unternehmen Handel treiben und sich noch nie mit dem Zoll befassen mussten – denn wir sind seit 1973 ein Vollmitglied der EU. Die Zollabwicklung wird für sie eine völlig neue Herausforderung sein. Und die Anzahl der Erklärungen, die das Vereinigte Königreich dann zu bewältigen hätte, wird von etwa 55 Millionen pro Jahr auf 300 Millionen pro Jahr steigen. Allein das wird die Transaktionskosten enorm erhöhen: Allein für den Papierkram könnten etwa 32 Pfund pro Transaktion fällig werden. Wenn man diese Zahlen miteinander multipliziert, würden die Transaktionskosten nur für die Abwicklung aller Unterlagen um fast acht Milliarden Pfund ansteigen. Dafür braucht man auch Personal: Die Regierung hat eingeräumt, dass die Zollbehörden rund 50.000 mehr Mitarbeiter benötigen würden. Sicher bedeutet das auch eine neue Chance für Unternehmen, die Zolldienstleistungen anbieten, aber ich denke, dass der Nettoeffekt auf die Wirtschaft nachteilig sein wird.
Hat der Brexit trotz allem irgendwelche Vorteile?
Wenn man an die Leute denkt, die sich für den Brexit eingesetzt haben, dann war ihr Hauptargument, dass Großbritannien seine Souveränität wiedererlangen würde, wenn es sich von den EU-Vorschriften befreit. Es wäre dann in der Lage, freier mit anderen Ländern auf der ganzen Welt Handel zu treiben und neue Abkommen auszuhandeln. Aber auch dieses Argument kann angefochten werden: Die Studien deuten ja auch hier darauf hin, dass jeder zusätzliche Handel, den sich Großbritannien durch neue Abkommen mit anderen Nicht-EU-Ländern insgesamt sichert, nur einen kleinen Teil der Handelsvorteile ausmachen würde, die durch das Ausscheiden aus dem EU-Binnenmarkt verloren gehen. Großbritannien ist jetzt mit den Vereinigten Staaten in Vorverhandlungen über ein Freihandelsabkommen eingetreten, was es als EU-Mitglied nicht tun konnte. Aktuelle Zahlen der Regierung zeigen, dass Großbritannien in den nächsten 15 Jahren von einem US-Handelsabkommen nach dem Brexit höchstens einen Anstieg seines Bruttoinlandprodukts um 0,16 Prozent erwarten kann – was nur einen kleinen Beitrag zur britischen Wirtschaft darstellt. Und die USA sind nach der EU unser zweitgrößter Handelspartner. Andere Untersuchungen sagen, dass die britische Wirtschaft in den nächsten 10 bis 15 Jahren infolge des Austritts um Werte zwischen zwei und sieben Prozent schrumpfen könnte. Das Argument, dass wir die Handelsvorteile, die wir von der EU erhalten, jemals durch neue Handelsabkommen mit anderen Ländern ersetzen könnten, wird da also nicht unterstützt.
„Ich mache mir Sorgen, dass die Supply Chains ernsthaft gestört werden könnten.“
Gibt es trotz aller schlechten Auswirkungen etwas, das Sie bei diesem Thema zumindest neugierig auf weitere Entwicklungen macht?
Ich mache mir Sorgen, dass die Supply Chains ernsthaft gestört werden könnten, und zwar unabhängig davon, ob es ein Freihandelsabkommen gibt oder nicht. Allein die Tatsache, dass Großbritannien beschlossen hat, die Zollunion zu verlassen, bedeutet, dass es in unseren Häfen und Flughäfen Zollschranken errichten muss und das wird die Transitzeiten für die ein- und ausgehende Fracht erhöhen. Es wird interessant sein, wie unsere Unternehmen darauf reagieren. In einem ziemlich negativen Szenario könnten dann viele Unternehmen, die auf schnelle Frachtbewegungen zwischen ihren britischen Standorten und denen in der EU angewiesen sind, Kapazitäten und künftige Investitionen in andere EU-Länder verlagern – insbesondere in den Bereichen, die sehr auf Just-in-Time-Lieferungen angewiesen sind, beispielsweise Automotive, Luft- und Raumfahrt und die Pharmaindustrie– alles große Exportbranchen für Großbritannien. Es wird also interessant zu sehen, inwieweit sich die Investitionen in diesen Branchen von Großbritannien in andere EU-Länder verlagern. Ich denke, es wird die Attraktivität des Landes als industrieller Investitionsstandort reduzieren.
Gibt es kritische Punkte, die kaum zu bewältigen sind?
Was mich beunruhigt sind die Verzögerungen, zu denen es jetzt in den Häfen kommen wird, vor allem in Dover. Untersuchungen des Imperial College London zeigen: Wenn die Fahrzeuge beim Verlassen der Fähre oder beim Durchfahren des Tunnels nur wenige Minuten zu spät sind, kann das schon für beträchtlichen Lkw-Rückstau auf den großen Zufahrtsstraßen führen. Die Regierung hat bis zum Ende diesen Jahres Zeit, da Abhilfe zu schaffen. Ein weiterer Punkt ist, dass Unterstützer des Brexits sagen, dass wir gar keine physischen Zollschranken brauchen, sondern die Kontrollen digital abwickeln können. Die EU hat das in anderen Ländern untersucht und ist zu dem Schluss gekommen, dass die IT möglicherweise in der Lage sein wird, diesen Druck zu verringern, aber sie konnten keine Beispiele dafür finden, dass dies irgendwo anders auf der Welt bereits funktioniert. Es ist also sehr unwahrscheinlich, dass wir die physischen Barrieren in den nächsten Jahren auf einfache Weise umgehen können. Nordirland, an dem das Vereinigte Königreich seine einzige Landgrenze mit der EU hat, stellt auch große handelspolitische und logistische Herausforderungen dar. Großbritannien hat versprochen, dass es keine harte Grenze auf dem Land geben würde, sondern stattdessen eine entlang der Irischen See. Das war ein integraler Bestandteil des Gesamtabkommens, das Großbritannien zusammen mit der EU unterzeichnet hat, aber jetzt leugnet unser Premierminister es. Er sagt, es werde keine Kontrollen der Fracht zwischen Großbritannien und Nordirland geben, was der Aussage im Rückzugsabkommen widerspricht. Dies wird meiner Meinung nach ebenfalls Auswirkungen auf die laufenden Handelsverhandlungen haben, denn es stellt schließlich in Frage, wie vertrauenswürdig die britische Regierung tatsächlich ist. Das Rückzugsabkommen mit der EU enthielt auch eine politische Erklärung, die nicht bindend ist, aber in der beide Seiten erklärten, was sie in der nächsten Phase zu erreichen hofften. Dort erklärte Großbritannien, dass es eng mit der EU verbunden bleiben und sich an die EU-Vorschriften über Dinge wie die Anerkennung regionaler Marken halten wollte. Aber auch hier hat Großbritannien nun seine Meinung geändert und diese Verpflichtungen gelockert. Daher erlebt die EU, die mit Großbritannien verhandelt, eine Folge aus gebrochenen Versprechen. Es ist daher wahrscheinlich, dass die EU hartnäckig sein und Überprüfungen einleiten wird, um sicherzustellen, dass Großbritannien hält, was es verspricht.