„Das ist ein großer Schritt in neue Märkte“

Christoph Martin Radtke, in Frankreich als Fachanwalt für internationales Wirtschaftsrecht tätig, erläutert die Neuerungen der Incoterms® 2020.

Wie haben Sie den Prozess der Erstellung der Incoterms® 2020 erlebt?

Während die Incoterms bis 2010 traditionell von europäischer Praxis – insbesondere der nordeuropäischen und skandinavischen – geprägt waren, setzte sich die Redaktionsgruppe der ICC diesmal bewusst anders zusammen: Unter anderem waren Vertreter aus China, Australien, der Türkei, den USA dabei, und wir haben von ihren Erfahrungen sehr profitiert. Die internationale Zusammensetzung der Gruppe spiegelt die Globalisierung des Handels, die sich insbesondere in den vergangenen zehn Jahren vollzogen hat, wider – und damit auch die globale Ausdehnung der Incoterms. Denn man muss davon ausgehen, dass überall, wo weltweit gehandelt wird und Kaufverträge abgeschlossen werden, Bezug auf dieses Regelwerk der ICC genommen wird. Die Incoterms haben also ihren Status als weltweite Referenz von Regeln in Kaufverträgen behalten und weiterentwickelt. Parallel haben sich nicht etwa andere Regeln entwickelt, sondern alle Beteiligten arbeiten mit den Incoterms. Auch die offiziellen Vertreter der chinesischen Außenwirtschaft erklärten dem Redaktionsgremium ganz ausdrücklich, dass der Erfolg chinesischer Unternehmen nicht zuletzt davon abhängt, dass sie sich auf die Incoterms stützen.

Was erwartet die Nutzer mit der Neuerscheinung der Incoterms® 2020?

Die Incoterms® 2020 setzen die Entwicklung der Regeln von 2010 fort. Die damalige Ausgabe hatte sehr wichtige Neuerungen mit sich gebracht, unter anderem neue Klauseln und eine klare Unterscheidung zwischen den Regeln für den multimodalen Transport, insbesondere für Container, und den Incoterms für Schiffstransport. So können die Nutzer besser damit arbeiten. Diese Entwicklung ist in der Version 2020 weitergeführt worden, genauso wie die Anwendung der Incoterms auch auf rein nationale Warengeschäfte. Das war der wichtige Schritt 2010, wo die Regeln nicht mehr nur für internationale Verträge, sondern auch für nationale Geschäfte und ganze Zollräume wie den der Europäischen Union angepasst wurden.

Der Praxisbezug steht also nach wie vor im Vordergrund?

Ja, unsere Arbeitsgruppe orientiert sich immer an den Anforderungen der Praxis, die über die 80 nationalen ICC-Komitees in über 3000 Kommentaren an uns herangetragen werden. Für 2020 hatten wir keine radikalen Änderungswünsche beziehungsweise keine, die eine Mehrheit gefunden hätten: So fallen beispielsweise keine Regeln weg, wie das 2010 der Fall war; und es kommen auch keine neuen Regeln hinzu, sondern es bleibt bei den elf bekannten Incoterms-Klauseln.

Was ändert sich mit den Incoterms® 2020?

Das Buch enthält wichtige inhaltliche Änderungen, die eine Anpassung an die aktuelle Praxis ermöglichen. Unter anderem gibt es eine Änderung in den zwei bestehenden Klauseln, die eine Versicherungspflicht für den Verkäufer vorsehen: bei CIF und CIP. Für die Klausel „Kosten, Versicherung und Fracht bis zum Bestimmungshafen“ (Cost Insurance Freight, CIF) wurde die Minimalversicherung wie bisher beibehalten, während im Fall von „Fracht und Versicherung bezahlt“ (Carriage Insurance Paid, CIP) jetzt eine Allriskversicherung vorgesehen ist – gemäß einem Wunsch aus der Praxis. Für Seetransporte mit CIF bleibt also die übliche Mindestversicherung , während dies für CIP, für die multimodale Transportpraxis, vor allem mit Containern, als unzureichend befunden wurde.

Eine weitere inhaltliche Neuerung betrifft den 2010 geschaffenen Incoterm DAT – Delivered at Terminal. Es entstand der Bedarf, weitere Lieferorte im Bestimmungsland angeben zu können als nur einen Terminal. Das hat zu einer Umbenennung in „DPU“ geführt, wobei das P für „place“ und das U für „unloaded“ steht. Damit kann an jeden Platz, an dem ein Entladen möglich ist, geliefert werden und nicht nur an ein Zollterminal. Hierbei wurde vor allem ein Wunsch der deutschen Exportindustrie berücksichtigt, insbesondere der Maschinen- und Anlagenbauer, die an diverse Bestimmungsorte liefern, zum Beispiel eine Industrieanlage irgendwo in China. Es handelt sich also um eine wichtige Anpassung des Namens dieser Incoterms-Klauseln an die heutige Praxis.

Ebenso wurde die FCA als vielleicht wichtigste Klausel der Incoterms für Verkäufer überarbeitet. Worum geht es dabei?

In der Praxis gehen die Versender oft davon aus, dass „frei Frachtführer“ (Free Carrier, FCA) die optimale Klausel ist, wenn Waren im Container transportiert werden. Denn dann wird am Eingang eines Containerterminals geliefert, und insofern ist die FCA hier die passende Lösung.

Jetzt kann aber folgendes Problem entstehen: Sehr häufig wird die Finanzierung des Kaufvertrags durch ein Dokumentenakkreditiv abgesichert, das von einer Bank ausgestellt wird. In vielen Ländern verlangen die Banken – aber auch die Käufer ein Konnossement mit An-Bord-Vermerk – eine sogenannte On-board Bill of Lading, die nachweist, dass die Waren auf dem Schiff verladen wurden. Dies wiederum passt nicht zu der FCA-Bedingung, die den Eingang eines Containerterminals als Lieferort mit dortiger Empfangsbestätigung als Nachweis vorsieht, aber keine On-board Bill of Lading. Die Verladung auf dem Schiff erfolgt ja erst später, wenn überhaupt ein Schifftransport stattfindet. Somit ergab sich folgendes Problem für die Praxis: Die Versender sagen, sie würden die FCA-Klausel gern nutzen, nehmen aber stattdessen „frei an Board“ (Free on Board, FOB), wonach an Bord eines Schiffes geliefert wird, um eine On-board Bill of Lading zu erhalten.

Darüber haben wir im Redaktionsgremium für die Incoterms® 2020 lange diskutiert und folgende Lösung entwickelt: Für FCA wird eine neue Option eingeführt. Die Vertragsseiten können nun vereinbaren, dass an ein Containerterminal geliefert wird gemäß FCA, der Käufer seinen Transporteur aber anweist, dem Verkäufer eine Bill of Lading zu übergeben. Damit kann der Verkäufer der Bank diese Bill of Lading vorlegen und so die Zahlung aus dem Dokumentenakkreditiv erhalten. Diese Anpassung der FCA-Klausel an die aktuelle Praxis ist, wie gesagt, nur eine Option, aber eine Lösung, solange in vielen Ländern Banken und Käufer noch eine On-board Bill of Lading verlangen. Wir sind gespannt, wie das aufgenommen wird.

Das Buch hat sich optisch ebenfalls verändert: Es enthält jetzt Illustrationen, ebenso wurde die Struktur geändert.
Was hat es damit auf sich?

Wir haben tatsächlich viel Zeit darauf verwandt, nicht nur die Regeln, sondern auch das Buch strukturell zu verbessern und damit die Nutzerfreundlichkeit zu erhöhen. Es enthält jetzt wieder eine sehr detaillierte Einführung. So kann jeder leicht überblicken, was sich seit 2010 geändert hat. Völlig neu sind auch die Illustrationen zu jeder Incoterm-Klausel, die sie sozusagen optisch erläutern. Und jede Klausel enthält eine eigene Erläuterung für Nutzer zu ihrer Auslegung – die „Explanatory Notes“. 2010 enthielten die Regeln zum ersten Mal so einen Hinweis zur Verwendung, der damals „Guidance Note“ genannt wurde. Die „Explanatory Notes “ erläutern, was die Vertragsseiten mit einer Incoterms-Klausel genau bezwecken, und das ist ein ganz wichtiger Unterschied. Die „Explanatory Notes“ sind ausführlicher, aber sind jetzt auch eine Interpretationshilfe. Sie sind ein Hilfsmittel für alle, die verstehen möchten oder müssen, was die Vertragsseiten vereinbaren wollten, und wenden sich insbesondere auch an Richter und Schiedsrichter.

Was ändert sich noch?

Die zehn Paragrafen A und B in jedem Incoterm, die die Pflichten der Vertragsseiten, etwa Lieferung und Kostentragung, regeln, wurden in einer völlig neuen Logik angeordnet; sie beginnt mit der Lieferung und führt dann über die verschiedenen Pflichten bis zu den Kosten. Die Kosten sind erstmals alle in einem Paragrafen zusammengefasst. Der Versender braucht nun lediglich den Kostenparagrafen zurate ziehen, in dem alle Kostenarten aufgeführt sind. Zudem befindet sich am Ende des Buches eine horizontale Darstellung für jede Incoterms-Klausel und jeden Paragrafen. Dort kann man zum Beispiel die Kostentragung für Geschäfte gemäß FCA ganz einfach mit DAP – „Delivered at Place“ – vergleichen. Bisher musste man dafür im Buch jeweils für alle elf Incoterms-Klauseln blättern und vergleichen. Die horizontale Darstellung ist sowohl in der Druckausgabe als auch im E-Book enthalten und bedeutet eine deutlich verbesserte Hilfestellung für die Anwender. Das ist ein großer Schritt nach vorn, insbesondere wenn man die Intention der ICC berücksichtigt, die Regeln noch besser und zudem weltweit zugänglich zu machen, insbesondere in Asien.

Wie will die ICC die Incoterms® in diesen Ländern bekannter machen?

Sie entwickelt ein Programm, das die Verbreitung der Regeln zu einem für alle Nutzer erschwinglichen Preis ermöglicht. Denn wir möchten, dass das Regelwerk überall zugänglich ist. Und das funktioniert nur, wenn es in elektronischer Form vorliegt und zu einem günstigen Preis verfügbar ist.

Was erwarten Sie in Ihrer Tätigkeit als Anwalt von der Einführung der Incoterms® 2020?

Ich verspreche mir von der Neuausgabe ein weit besseres Verständnis der modernen Incoterms zunächst einmal für jede Transportart, aber insbesondere für den Containertransport. Schließlich ist Letzterer die gängige Praxis in Europa, wo industrielle Güter verkauft und gekauft werden. Damit einher ist auch ein besseres Verständnis für alle Risiken und Kosten je nach Klausel verbunden. So können die Unternehmen besser kalkulieren, welche Incoterms-Klausel für ihr jeweiliges Geschäft am besten geeignet ist.

Was raten Sie den Nutzern?

Sie sollten sich gründlich mit der neuen Ausgabe beschäftigen. Außerdem kann ich wirklich immer nur dazu raten, dass sich die Vertragsseiten auf die offizielle Veröffentlichung beziehen und nicht Sekundärliteratur zurate ziehen oder gar im Internet nach etwas „Passenden“ suchen. Denn häufig enthalten diese Quellen viele Fehler, wodurch Risiken für die Unternehmen entstehen. Die Konflikte kommen ja hauptsächlich dann auf, wenn man sich geirrt und eine falsche Incoterms-Klausel vereinbart hat, die nicht zur tatsächlichen Praxis passt, oder wenn man bei einem Preis, den man zuvor kalkuliert hatte, sich nicht über das volle Kosten- und Transportrisiko bewusst war. All diese Aspekte werden mit den Incoterms-Klauseln genau geregelt und nun noch klarer dargestellt.

ZUR PERSON

Christoph Martin Radtke, Rechtsanwalt in Lyon, engagiert sich seit 20 Jahren sehr aktiv bei der Internationalen Handelskammer in deren Kommission Commercial Law and Practice, wo er an der Überarbeitung der Incoterms und an Musterverträgen, insbesondere am internationalen Kaufvertrag, mitgewirkt hat. Er war Kovorsitzender der internationalen Arbeitsgruppe für die Incoterms® 2010 und 2020. Als Fachanwalt für internationales Wirtschaftsrecht setzt er zudem täglich internationale Kaufverträge auf. Durch seine Tätigkeit als Schiedsrichter und Anwalt vor staatlichen Gerichten, wo solche Verträge gegebenenfalls ausgelegt und interpretiert werden, kennt er die daraus entstehenden Konflikte.

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